Noch immer hat Rügen Schwierigkeiten, sich gegen die starke Konkurrenz durchzusetzen. Und das, obwohl Rügen gleich zehnmal größer ist als Sylt, eine 140 Kilometer längere Küste hat als ganz Schleswig-Holstein und sogar mehr Sonnenstunden als München.
In den traditionsreichen polnischen Seebädern wie Sopot und Gdansk ist die Konkurrenz aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Dort gibt es inzwischen gute Hotels zu einem oft unschlagbaren Preis.
Die Antwort ist eine Charme-Offensive der deutschen Hotellerie. Eine große Rolle spielt dabei das wohl bekannteste und traditionsreichste Hotel der Insel. Das Kurhaus im Seebad Binz, dort habe ich eingecheckt. Um herauszufinden, ob Rügen im Allgemeinen und dieses Hotel im Besonderen eine Reise wert sind.
Die Rügener legen sich ins Zeug
Rügen als Ganzes wirkt wie ein Gegenentwurf zum schicken Sylt. Sogar im ziemlich vornehmen Seebad Binz. Die beeindruckende Steilküste mit den berühmten Kreidefelsen ist im Vergleich noch eher naturbelassen. Und von einem rauen, wilden Charme, der am besten vielleicht mit Teilen der Atlantikküste vergleichbar ist.
Wer sich sowohl landschaftlich als auch menschlich mit einem etwas raueren Charme wohler fühlt als mit geschniegelter Gastfreundlichkeit, für den ist Rügen eine spannende Alternative. Die Landschaft jedenfalls ist konkurrenzlos, weil einzigartig. Und beliebt. Obwohl ich in der absoluten Nebensaison mitten im November anreise, ist das Haus praktisch ausgebucht.
Die Art, wie das Kurhaus Binz sich in dieses naturgegebene Insel-Konzept einfügt und sich gegen die Konkurrenz im Norden behauptet, ringt mir Respekt ab. Das Hotel scheint in vielerlei Hinsicht die Eigenschaften seiner Umgebung aufzugreifen. Die besondere Küstenatmosphäre, den spröden Charme, die Andersartigkeit.
Keine Kosten und Mühen gescheut
Was mir schon beim Betreten der lichtdurchfluteten, großzügigen Lobby mit ihrem hellen Innendesign auffällt: Das Kurhaus nutzt seine geografischen und architektonischen Vorteile auf angenehm klischeefreie Art. Keine Spur von maritimem Kitsch und Möchtegern-Miami. Das Konzept ist eigenständig, konsequent und gelungen.
Das Kurhaus Binz, das heute zur Travel-Charme-Gruppe gehört, wurde 1908 erbaut und unter Federführung der Maden-Gruppe in Stuttgart gerade runderneuert. Alles, was ich sehe und anfasse, ist durchdacht, hochwertig, teuer. Allein das riesige, glitzernde Glasdach muss ein Vermögen gekostet haben. Auch Details wie die Treppengeländer, die verglasten Flügeltüren, die ungewöhnlichen Lampeninstallationen an den Decken und sogar in Nischen wirken auf eine angenehm unaufdringliche Art stilvoll und luxuriös.
Sogar konstruktionsbedingt notwendige Stahlrohre neben der Treppe wurden zentimetergenau im Farbschema des Interieur-Konzepts mitlackiert. Um den Gesamteindruck nicht zu schmälern.
Manches Hotel mit vollen fünf Sternen kann sich von Qualität und Genauigkeit der öffentlichen Bereiche eine große Scheibe abschneiden. Was den guten Eindruck für mich allerdings ein bisschen schmälert ist, dass die Lobby in einigen Ecken ein wenig überdekoriert wirkt. Der relativ kühle Stil des Mobiliars verstärkt für mich diesen etwas ungemütlichen, spröden Eindruck. Doch Design ist nun einmal Geschmackssache.
Dieses Muster setzt sich auf dem Zimmer fort: qualitativ top. Auch hier ist alles sehr solide und von hoher Qualität. Das gilt für die Marmorfliesen im Bad, für das Massivholz, für die Möbel.
Auch sonst fehlt es dem Haus an nichts, was man von einem Wellness-Hotel dieser Größe erwarten würde. Der üppige Spa erinnert mit seinem verspielten Mosaikfliesen-Design teilweise an 1001 Nacht. Auch der Fitnessbereich ist riesig und verfügt sogar über ein Schwimmbad.
Am Service scheiden sich die Geister
Am Ambiente gibt es wenig auszusetzen, beim Service kommen die persönlichen Vorlieben zum Tragen. Und daran scheiden sich bei diesem Hotel wohl tatsächlich die Geister. Wer die eher kühl-zurückhaltende Art und den trockenen Humor der Nordlichter zu schätzen weiß, der kann sich hier ganz bestimmt pudelwohl fühlen. Ich persönlich habe es gern ein bisschen herzlicher, als ich die meisten Mitarbeiter hier erlebe.
Als ich zum Beispiel beim Frühstück zu meinem Tee noch um ein Glas Mineralwasser bitte, bekomme ich ein schmallippiges Schmunzeln und den Satz „Steht am Büffet“ zur Antwort.
Allerdings gibt es Ausnahmen. Beim Dinner im Kurhaus-Restaurant bedient mich Michael. Und der versteht nicht nur etwas von seinem Job, sondern auch von herzlichem Service. Er verwöhnt mich nach Kräften und hat dabei stets ein Lächeln auf den Lippen. Es geht doch!
Kulinarisch ein Volltreffer
Ausgerechnet beim Essen ist Schluss mit den „Geschmackssachen“. Hier im Kurhaus-Restaurant ist die Sache eindeutig. Die Gastronomie überzeugt mich voll und ganz. Sie macht das Beste aus dem großen Vorteil, dass das Meer bis vor die Haustür schwappt. Der Fisch ist zappelfrisch und auf den Punkt gegart. Auch die regionaltypische, aber doch behutsam aufgepeppte Zubereitung finde ich ausgesprochen appetitlich. Bodenständig, aber von hervorragender Qualität.
Dazu kommt noch ein großer Vorteil. Absolut vernünftige Preise. Das wirklich makellose Doradenfilet mit Kapern-Buttersoße, Chicoree, Speckfenchel und Süßkartoffeltörtchen kostet entspannte 24 Euro. Da wäre auf Sylt bei vergleichbarer Qualität gewiss locker das Doppelte fällig.
Und den Rehrücken mit Preiselbeer-Jus, Weiße-Bohnen-Schoko-Püree, Specksegel und Steinpilznadel müssen sie in Heiligendamm für 34 Euro erst mal nachmachen. Ebenso wie das Bison-Steak. Die vegetarischen Optionen, zum Beispiel das Kräuterrisotto mit gebratenem Saitling und Kräuterschaum für 16 Euro, sind zwar etwas dünn gesägt, aber ebenfalls sehr schmackhaft. Den Käseteller mit regionalen Spezialitäten in Bio-Qualität gibt es für erstaunliche 9 Euro.
Auch das Frühstücksbüffet am nächsten Morgen gehört in Auswahl, Qualität und Präsentation zu den besten, die ich in Deutschland in letzter Zeit genießen durfte. Und mein Frühstück ist mir heilig.
Das alles genießt man in toller Umgebung. Das lichte Restaurant erinnert mit seinen geschätzten fünf Metern Deckenhöhe, der riesigen Fensterfront mit Meerblick und den elegant möblierten, angenehm diskreten und mit genügend Abstand angeordneten Sitzrondellen tatsächlich noch an den ursprünglichen Stil der alten Kurhäuser, in denen sich vor allem in den Zwanzigern die bessere Gesellschaft tummelte. Im Steakhaus geht es rustikaler zu. Im Sommer lockt die Terrasse mit Blick auf Meer und Strandpromenade.
Raths Experten-Tipps für Rügen
- Essen: Freitags ab 18 Uhr gibt es im Kurhaus-Restaurant exzellente Fischküche als üppiges Büffet für überschaubare 38 Euro pro Person – Reservierung empfohlen.
Lifestyle: In alter Kurhaus-Tradition empfehle ich als stilvolle Pause den High Tea im Kurhaus Binz – mit Blick aufs Meer und hervorragender Kuchen- und Gebäckauswahl
Sightseeing: In der nahegelegenen Piratenschlucht, einem Uferausbruch an der wildromantischen Steilküste, hat Störtebeker der Legende zufolge Schätze vergraben.
Fazit: Geschmackssache auf hohem Niveau
Auf dem Papier gibt es am Kurhaus Binz wenig auszusetzen. Das Gebäude ist eine Augenweide. Alles, was man sieht und anfasst, ist von ausgezeichneter Qualität. Die Substanz, von den Badfliesen bis zu den Betten, ist top. Das Design ist stilvoll, wenn auch für mich nicht unbedingt gemütlich – nämlich etwas kühl, etwas zu beruhigend und bisweilen etwas hölzern um Inszenierung bemüht.
Dafür ist die Gastronomie eine reine Freude. Letztlich ist es Geschmackssache, warum bei mir ganz persönlich der Funke nicht komplett überspringen will: Vor allem der spröde Charme im Service, der für mich bei der Bewertung eines Hotels über allem steht, erschließt sich mir einfach nicht so recht. Nur der Service verhindert bei mir eine noch bessere Wertung. Ungeachtet dessen kann ich jedem raten, Rügen und dem Kurhaus Binz eine Chance zu geben. Wer den spröden Charme von Land, Leuten und Luxus zu schätzen weiß, kann hier sein Herz verlieren. Rath checkt ein!
Die Wertung auf der Travelgrand-Skala:
1. Ausdrückliche Reisewarnung
2. Besser als unter der Brücke
3. So la-la, nicht O-la-la
4. Meckern auf hohem Niveau
5. Wenn’s nur immer so wäre
6. Ganz großes Kino